Zur Geschichte
Das Domgymnasium zur Zeit des Nationalsozialismus
Welche Rolle spielte das Domgymnasium unter der Herrschaft des Nationalsozialismus? Welche Veränderungen brachten die Jahre von 1933 bis 1945 im Schulleben und Schulalltag? Wie reagierten die Betroffenen auf die nationalsozialistische Diktatur? Um hier zu einem halbwegs gesicherten Urteil zu kommen, bedarf es sicherlich einer eingehenden Auswertung des noch vorhandenen Quellenmaterials - die Betonung liegt hier auf dem Worte „noch“, denn über 50 Jahre nach dem Geschehen und bei einer zusehends geringer werdenden Zahl von Augenzeugen wird die Quellenbasis immer dünner. Des weiteren dürften die wenigen hier zur Verfügung stehenden Seiten auch nicht ausreichen, um der Fragestellung auch nur annähernd gerecht zu werden. Der Verfasser dieser Zeilen kann daher auch auf die eingangs gestellten Fragen kaum eine Antwort geben. Nach sporadischer Sichtung des vorliegenden Materials kann er nur vermuten, daß die Jahre von 1933 bis 1945 am Magdeburger Domgymnasium sowohl Offenheit als Skepsis, sowohl Anpassung als auch Widerstand hervorriefen - wie sollte es auch anders sein bei einer Schule, d. h. einer Gemeinschaft von mehreren Hundert Schülern und Lehrern, von denen trotz aller Gleichschaltungsmaßnahmen der Regierenden nicht alle in ein System gezwängt werden können? Um keine vorschnellen oder übereilten Wertungen zu treffen, beschränkt sich der Verfasser in diesem Abschnitt auch auf die bloße Wiedergabe einzelner Quellenstücke, bei deren Lektüre sich der Leser seine eigenen Gedanken machen soll. Die Auswahl ist so angelegt, daß sie einen (freilich nur verkürzten) Einblick in das Handeln möglichst vieler am Schulleben beteiligter Kreise - Schulleitung, Lehrerschaft, Schülerschaft und Elternschaft - bietet.
Manfred Nollmann
Vorwort des Schulleiters Dr. Weidel zum Schuljahresbericht für die Jahre 1932/33
Zum ersten Mal seit zwei Jahren wendet sich unsere Schule wieder mit einem gedruckten Jahresbericht an die Elternschaft. In dieser Spanne Zeit sind mancherlei entscheidende Veränderungen eingetreten. Vor einem Jahr wechselte die Leitung der Schule, da Herr Oberstudiendirektor Bruns in den Ruhestand trat; das blühende Reformrealgymnasium, das mit dem Domgymnasium verbunden war, aber seit 1928 abgebaut werden mußte, besitzt jetzt nur noch die drei Oberklassen; das Klostergymnasium, das 1928 mit dem Domgymnasium zu einer Schule verschmolzen wurde, ist in diesen Jahren völlig im Domgymnasium aufgegangen; Ostern 1932 nahm unsere Schule drei Klassen des aufgehobenen städtischen König-Wilhelm-Gymnasiums, von denen eine, die Obersekunda, bei der Wiedereröffnung des Gymnasiums zu Ostern dieses Jahres wieder zu ihrer alten Schule zurückkehrte. Von anderen Veränderungen und Geschehnissen gibt die von Herrn Oberstudienrat Waitz erstattete Chronik der Anstalt Bescheid.
Das gewaltigste Erleben aber, das Lehrer und Schüler bis in die Tiefen ihres Gemüts und Willens erfaßte, war der ungeheure innerpolitische Umschwung, der mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler eintrat und der in einem Siegeslauf ohnegleichen die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei die Macht im Staate erringen ließ. In einer Reihe eindrucksvoller Feiern begleitete unsere Schule mit immer steigender Begeisterung dies Geschehen, und in den verschiedenen Ansprachen, die ich als Direktor hielt, suchte ich unseren Jungen klar zu machen, daß es sich hier nicht um eine bloße Neugruppierung der Parteien handele, sondern um einen völligen Umschwung der Gesinnung, aus dem heraus ein neues Deutschland geboren werden müsse. Nach langem, schwerem Traum ist unser Volk endlich wieder zur Selbstbesinnung erwacht. (...)
Es ist ganz selbstverständlich, daß die heute vollzogene Rückkehr des deutschen Kulturwillens zu den in Volk und Vaterland liegenden Quellen seiner Kraft nicht ohne tiefe und grundsätzliche Änderung unseres gesamten Bildungs- und Erziehungswesens bleiben kann und darf. Die Grundlinien einer Bildung und Erziehung, die sich bewußt auf den Boden unseres deutschen Volkstums stellt, und seine Aufgaben in der Gegenwart suchte ich am 28.10. v. J. vor der Elternschaft unserer Schule kurz zu umreißen. Was damals noch Wunsch und Hoffnung war, aber bereits auf weitgehendes Verständnis unter der Elternschaft stieß, ist heute, Gott sei Dank, im Begriff sich zu verwirklichen. Folgende Gesichtspunkte entwickelte ich damals.
1. Echte Erziehung braucht für ihre Ziele feste Normen, Traditionen und Bindungen. Solche aber sind nur im Überpersönlichen zu finden: In Volk und Gott, in Staat und Kirche, in Sittlichkeit und Recht. Eine Erziehung „vom Kinde aus“ oder gar die Forderung des „Wachsenlassens“ ist keine Erziehung, sondern nur Auflösung zugunsten einer willkürlichen und wahllosen Entwicklung. Die Folgen eines solchen Verfahrens zeigten sich in den vergangenen Jahren bereits mit erschreckender Deutlichkeit in der völligen Haltlosigkeit und Entwurzelung der Individuen in bezug auf die letzten entscheidenden Fragen, in der Auflösung aller festen Gemeinschaften, in der Aufspaltung der höchsten dieser Gemeinschaften: des Volkes in sich befehdende Einzelgruppen, in mangelndem Pflichtgefühl und in dem erschreckenden Rückgang der Leistungen.
2. Echte Erziehung hat stets den ganzen Menschen im Auge: nach Körper, Seele und Geist, nach Verstand und Gefühl, Gemüt und Phantasie, Wille und Charakter. Die Überbetonung des Verstandes und die Einstellung auf das Diesseitige, die Überschätzung der Organisation vor der schöpferischen Tat mußte notwendig zu einer Versandung der Kultur zugunsten einer bloßen Zivilisation führen und zur Lähmung des Willens, der persönlichen Verantwortungsfreudigkeit und der schöpferischen Kraft.
3. Echte Erziehung wurzelt in der Gemeinschaft und führt hin zur Gemeinschaft. Das Einzelwesen hat kein selbständiges Daseinsrecht: „Was hast Du, das Du nicht empfangen hast?“ Wir bedeuten nur etwas als Glieder unseres Volkes, dem wir körperlich und geistig alles verdanken. Dann muß aber auch alle Erziehung zur Gemeinschaft hinführen. Aus dem Dank für das, was wir ihr verdanken, muß das Verantwortungsgefühl für das Gedeihen der Volksgemeinschaft entspringen. Solche Verantwortung können nicht äußere und wechselnde Majoritäten und Statuten uns abnehmen, sie muß vielmehr von selbständiger und gewissenhafter persönlicher Entscheidung getragen werden.
Daraus ergeben sich nun für die Erziehung ganz bestimmte Forderungen und Aufgaben: Der Erziehung gebührt unter allen Umständen der Vorrang vor der Bildung, denn der Wert des Menschen liegt in Charakter und Gesinnung, nicht im Verstand und gewissen Fertigkeiten. Auch alle bildnerische Tätigkeit muß sich daher in den Dienst der Erziehung stellen. So wichtig und unentbehrlich auch die Aneignung bestimmter Kenntnisse und Fertigkeiten ist, so darf doch das Bildungsverfahren nie das erzieherische Ziel aus den Augen lassen, daß es gilt, das werdende Geschlecht durch die Bildung zur Ehrfurcht vor den Dingen und deren Gesetzen, zur Sachlichkeit, zum Wahrheitssinn, zur Willenskonzentration, zu Fleiß, Hingabe, Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit und vor allem zur Dankbarkeit gegenüber dem Erbe der Väter und damit zum verantwortungsvollen Gliedbewußtsein gegenüber dem eigenen Volk hinzuführen. (...)
Daraus ergeben sich nun endlich bestimmte Gesichtspunkte für die neue Gestaltung unseres Schulwesens:
1. Jede Schule, die nicht reine Fach- oder Berufsschule ist, muß auf das Leben vorbereiten, sie soll nicht die für bestimmte Berufe nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten übermitteln, sondern sie soll den werdenden Menschen dazu erziehen, daß er den mannigfachen Aufgaben, die das Leben an ihn stellt, gewachsen ist. Dazu bedarf es der Stählung und Schulung des Körpers, der Aneignung der für das Verständnis des Gegenwartslebens nötigen Grundeinsichten, Kenntnisse und Fähigkeiten, der Erziehung zu geistiger Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit, zu klarem Urteil und Blick für das Wesentliche, vor allem aber einer festen Charakter- und Willenserziehung.
2. Das Ziel der Schule darf darum nicht aus Nützlichkeitserwägungen heraus bestimmt werden, sondern allein durch die Rücksicht auf die Gestaltung des ganzen Menschen. Es gilt, ihn zu körperlicher, seelischer und geistiger Tüchtigkeit durch Schulung aller seiner Kräfte zu erziehen und seinen Charakter und Willen zu bilden und zu stählen.
3. Das kann natürlich auf den verschiedensten Wegen geschehen. Das Gymnasium sucht dies für alle Schulen gleiche Ziel über die Einführung der Antike, ihre hohe und geschlossene Kultur und ihre bleibend vorbildlichen Leistungen zu erreichen. Letztes Ziel ist aber auch für das Gymnasium dies: durch die Auseinandersetzung mit der antiken Kultur und Sprache tieferes Verständnis für das eigene Volkstum zu erzeugen und die Jugend zu gleichen Leistungen aus dem Geist unseres Volkstums zu befähigen.
4. Jegliche Bildung muß gipfeln in einer Erziehung der Jugend, die sie befähigt, das Leben zu meistern, sich und andern zur Freude, unserem Volk zum Segen und Gott zur Ehre.
Bericht des Staatlichen Vereinigten Dom- und Klostergymnasiums Magdeburg für die Jahre 1932/33, Magdeburg 1933, S. 1-3.
Einladung zur Sitzung des Elternbeirates vom 22. März 1933
Dipl.-Ing. H. Stephani
Vorsitzender des Elternbeirats des Vereinigten
Dom-Kloster-Gymnasiums
Magdeburg, den 22.3.1933
An die Mitglieder des Elternbeirats.
Für die morgen, den 23.3.1933, an der bekanntgegebenen Stelle, Berg’s Hotel an der Ulrichskirche, 1. Treppe, stattfindende Elternbeiratssitzung haben leider mehrere Elternbeiratsmitglieder sich entschuldigt wegen anderweitiger Verpflichtung. Die Sitzung aber findet (...) trotzdem statt. Leider kann auch ich morgen der Sitzung nicht beiwohnen, da ich wegen einer dringenden Angelegenheit der technischen Nothilfe morgen abend nach Burg muß. Die Leitung der Sitzung liegt in den Händen des stellvertretenden Vorsitzenden (...). Da morgen mehrere Mitglieder des Elternbeirats nicht anwesend sein können, (...) wird, falls erforderlich, eine zweite Versammlung in der nächsten Woche stattfinden, für die der Termin gegebenenfalls morgen abend beschlossen werden und den nicht anwesenden Mitgliedern bekanntgegeben wird.
Auf die Tagesordnung für den morgigen Tag wird noch gesetzt:
Nichtbeteiligung des Dom-Kloster-Gymnasiums an dem Fackelzug der nationalen Verbände, obgleich sonst alle Schulen stark vertreten waren,
Abnahme eines Hitler-Bildes durch einen Lehrer (schriftlicher Bericht wird vorgelegt),
marxistisch-kommunistische Einstellung eines anderen Lehrers.
Mit deutschem Gruß!
Stephani (Unterschrift)
Vorsitzender
Landeshauptarchiv Magdeburg, Rep. C 23 Domgymnasium Magdeburg, Nr. 21, fol. 21.
Briefwechsel zwischen Dr. Braem, Domprediger und Konsistorialrat, und Dr. Weidel, Schulleiter und Oberstudiendirektor, vom November 1937
Dr. Braem
Domprediger und Konsistorialrat
Am Dom 1
Magdeburg, den 22. November 1937
Sehr geehrter Herr Oberstudiendirektor!
Hierdurch wollen Sie mir gestatten, auf unser fernmündliches Gespräch über die Abhaltung der Abendmahlsfeier im Dom für Schüler und Lehrerfamilien des Domgymnasiums zurückzukommen. Soviel ich Sie verstanden habe, wollten Sie sich noch einmal darüber unterrichten, wie es sich mit dem von mir als auf einer Stiftung beruhend bezeichneten Observanz verhält.
Für eine baldige Mitteilung über Ihre Feststellungen wäre ich Ihnen, sehr geehrter Herr Oberstudiendirektor, sehr dankbar. Im übrigen bitte ich, Ihnen zum Ausdruck bringen zu dürfen, daß ich, nachdem ich diese Abendmahlsfeier auftragsgemäß von meinem Dienstantritt am Dom an nunmehr bereits zwölf Jahre hintereinander im Einvernehmen mit der Leitung des Domgymnasiums angesetzt und abgehalten habe, wobei die Freiwilligkeit der Teilnahme immer ausdrücklich betont worden ist, es sehr bedauern würde, wenn diese alte Übung gerade in der gegenwärtigen Zeit eine Unterbrechung erfahren würde.
In vorzüglicher Hochachtung
mit Heil Hitler!
Dr. Braem (Unterschrift)
Magdeburg, den 27. November 1937
Sehr geehrter Herr Konsistorialrat!
Von meinem in unserer fernmündlichen Unterhaltung vertretenen Standpunkt kann ich nicht abgehen. In einer Zeit, wo Schule und Kirche eng verbunden waren und die gesamte Schule an der Abendmahlsfeier teilnahm, konnte diese noch zur Erstarkung des Gemeinschaftsgefühles der Schule beitragen. Heute dagegen, wo diese nationalsozialistische Staatsschule ist, die evangelische Kirche aber innerlich zerrissen, ist die Feier geeignet, gegenteilig zu wirken. Schon die beiden letzten Male hat kaum die Hälfte der zum Abendmahl zugelassenen Schüler daran teilgenommen.
Abgesehen davon haben sich auch früher schon überzeugte Christen dagegen gewandt, daß eine rein kirchliche Feier, die wie keine andere innere Bereitschaft voraussetzt, zu einem festen Termin von Schulgemeinschaften übernommen und so doch unter einen gewissen Zwang gestellt, ja veräußerlicht wird. Es muß doch bedenklich stimmen, daß man diese Schulfeiern so gut wie überall hat fallen lassen und daß auch keine der übrigen hiesigen höheren Lehranstalten sie abhält. In einer Zeit, wo politische Reaktion sich oft genug unter den Deckmantel der Kirche flüchtet, möchte ich meine Schule vor jeder Sonderstellung bewahren. Unsere Schüler haben genügend Gelegenheit, mit ihren Eltern an kirchlichen Abendmahlsfeiern teilzunehmen.
Daß nun den beteiligten Pfarrern und kirchlichen Beamten durch den Wegfall unserer Schulfeier eine Einnahme von über hundert Mark entgeht, hat gewiß mit meinem Entschluß ebensowenig zu tun wie mit Ihrem Eintreten für die Beibehaltung der Feier. Letzten Endes aber sind solche Sondervergütungen in einer Zeit, wo nach meiner Kenntnis die früher so verschiedenen kirchlichen Einkommen längst ausgeglichen sind, auch kaum mehr vertretbar. Ich würde es begrüßen, wenn die Stiftung, aus der die Feier bisher bezahlt wurde, in ein Stipendium für bedürftige Schüler umgewandelt werden könnte, vielleicht unter besonderer Berücksichtigung der Söhne von Pfarrern und Kirchenbeamten. Ob das rechtlich möglich ist, müssen die von mir eingeleiteten Erhebungen erweisen.
Heil Hitler!
Ihr sehr ergebener
(Unterschrift von Oberstudiendirektor Dr. Weidel)
Landeshauptarchiv Magdeburg, Rep. C 23 Domgymnasium Magdeburg, Nr. 23, fol. 97-98