Herzlichen Glückwunsch den Gewinnern des Poetry Slam!

06.03.2013

Wortwäsche – Poetry Slam

Mit Beginn des Schuljahres nach den Sommerferien begann an 6 Magdeburger Schulen die Vorbereitung eines Poetry-Workshops für interessierte Schülerinnen und Schüler. Die Organisation oblag mit Tobias Glufke einem engagieren jungen Mann, der seit Jahren als professioneller Poetry Slammer arbeitet und das kreative Schreiben und Vortragen eigener Texte mit staatlicher Unterstützung nun auch in die Schulen bringen wollte.

Für die insgesamt 17 Schülerinnen und Schüler des Ökumenischen Domgymnasiums war es am 01.12.2012 und 08.12.2012 endlich soweit. Das „Café Central“ in der Leibnizstraße wurde zur kreativen Denk- und Schreibfabrik. Beeindruckende Texte entstanden unter professioneller Anleitung und die talentierten Jugendlichen erhielten neben ehrlichem Feedback vor allem zahlreiche Tipps, um ihre schriftstellerischen Versuche weiter zu verbessern. Die mutigsten der jungen Talente traten in mehreren Vorrunden und einem Finale am 18.12.2012 gegeneinander an, um herauszufinden, wer von ihnen die hohe Kunst des Texteschreibens und Vortragens am besten beherrschte. Am Ende durfte sich Nathalie Hasselblatt über den 1. Platz freuen. Ronja Pittorf erreichte Platz zwei und Jan Mroczkowski vom Norbertusgymnasium in Magdeburg wurde auf den dritten Platz gewählt.

(U. Keune)

Warum ist das so?

Jeder kritisiert unsere Gesellschaft und tut trotzdem nichts dagegen,
sogar die Politik redet um den heißen Brei herum und streut noch ein bisschen Verzweiflung daneben.
Die Menschheit nuschelt etwas zur Mesanthropie mit Ich hasse diese Welt
Und alle freuen sich, wenn in China wirklich mal ein Sack Reis umfällt.
Ist diese Gesellschaft nicht der reinste Griff ins Klo?
Wieso fragt sich niemand bei diesen ganzen Sachen Warum ist das so?

Warum hat dieses Dingsbums an der Kasse zum Trennen keinen Namen
Und warum vergisst man manche Menschen nie, obwohl sie einen verletzten und dich vielleicht bei deiner besten Freundin verpetzten?
Und warum genügt den ganzen Stars nicht eine verdammte Hochzeit für viele Millionen,
warum bleiben manche Leute noch nicht mal einen Monat an einer Stelle wohnen?
Warum schreibt der Banknachbar tausend Worte, wenn einem selbst die Klausur rein gar nichts sagt,
und warum bestimmen die Maya den 21.Dezember als Weltuntergangstag, obwohl sie niemand gefragt hat?
Warum werden Bio-Lehrer rot, wenn sie mit uns Sexualkunde durchnehmen,
warum sind wir nicht mit dem zufrieden, was wir jetzt haben und fangen an uns nach besserem zu sehnen.
Warum gestehen einem Menschen die ganz große Liebe, obwohl man sie selbst doch gar nicht so mag,
und warum liegen in den Läden schon im Juli Plätzchen und Adventskekse – es dauert doch noch ewig bis zum Weihnachtstag!
Warum kommen einem immer die Tränen, obwohl man vor Freude lieber lachen wollte,
warum steckt man den USB-Stick falsch herum rein – die andere Seite war die, die nach oben sollte!
Warum gibt es für Furzen tausend Begriffe und für Lieben nur den einen wahren,
und warum denkt die MVB, sie kann auch fünf Stunden später zu uns Wartenden fahren?
Warum ist Optimismus der Weg zum Ziel und warum will kein Mensch mehr in den Zoo,
ganz ehrlich – warum ist das alles so?

Ich mein, warum freuen sich alle nur auf die Hot Dogs bei Ikea – eigentlich wollten wir doch Billy’s und Sören’s besorgen,
warum sagen alle Eltern immer Mach es heute und nicht morgen.
Warum sind es immer die eigenen Weisheitszähne, die dran glauben müssen,
und warum schließen 90 Prozent der Frauen und nur 50 Prozent der Männer die Augen beim Küssen.
Warum berühren einfache Worte mehr als Geschwafel,
warum Kreischen alle beim Quietschen von Fingernägeln an der Tafel.
Warum sind heute die guten alten Zeiten von morgen und heute nicht die Momente, die zählen,
und warum gehen so viele Leute nicht wählen?
Warum ist ausgerechnet der 29. Februar der Tag der vier Jahre
Und warum haben manche Menschen bei der Geburt schon so viele Haare?
Warum werden Wasserstoffblondinen pauschal nur Chantal genannt,
warum bemalt man sich in der Schule immer wie ein Papagei an der Hand,
warum pinselt man beim Nägellackieren ständig über den Rand?
Warum machen oft nur lustige, nicht traurige Texte das Publikum froh,
ernsthaft – warum ist das so?

Warum beginnen Poetry Slams immer viel später als gedacht
Und warum sind in manchen Ländern die schlimmsten Männer an der Macht?
Warum muss man beim Arzt trotz Termin noch so lange warten,
warum schneiden manche Menschen nur mit einer Nagelschere den Rasen in ihrem Garten.
Warum liegt Weihnachten dieses Jahr vielleicht schon wieder kein Schnee
Und warum gibt es keine Hexen, Magier oder Feen?
Warum ist die passende Größe deiner Lieblingsschuhe im Laden nicht mehr dort,
und ist nicht Swag, sondern Yolo 2012 das Jugendwort.
Warum denkt man manchmal das gleiche, wenn man sich in die Augen sieht,
und warum sind Menschen wie die Geissens berühmt – vielleicht, weil jeder weiß, dass diese Familie vor unserer fragenden Gesellschaft flieht.

Warum singt Robbie Williams in seinem neuen Lied she go ohne s – he she it das s muss mit,
Und warum ist Tomatensaft im Flugzeug so der Hit?
Warum posten alle auf Facebook jeden kleinsten Scheiß
Und warum sehen Lehrer immer direkt, dass ich die Antwort auf ihre Frage nicht weiß.
Warum sind die bestaussehendsten Männer nicht zu haben – entweder ist ihre Beziehung oder schwul sein der Grund,
warum ist der einzige, der immer zuhört, unser großer Familienhund?
Warum sieht man in anderen das Gute und in sich nur das Schlechte,
warum besitzt in Amerika jeder noch diese Waffenrechte?
Und warum bitte tragen zwei Millionen Hipster das gleiche und sind trotzdem Anti-Mainstream drauf,
warum hat Cro seine Maske ständig auf?
Warum haben Mädchen und nicht Jungs ihre Tage
Und warum lachen manche, wenn ich nach der Uhrzeit frage – und danach merke, dass ich selbst eine Uhr trage.
Warum spricht der Galileo- Typ in jedem Land Deutsch – denkt Pro7 wir wissen nur von dieser einen Sprache,
warum gibt es im Tatort immer gleich eine Riesenblutlache, obwohl das Opfer nur in Ohnmacht fiel.
Warum starren alle zuerst auf deinen Po,
ganz im Ernst – warum ist das so?

Bei meinen Recherchen wie Wissen macht Ah oder Willi Will’s Wissen,
bekam ich dann ein schlechtes Gewissen.
Wenn jede Frage jetzt eine Antwort erhalten und wir diese auseinanderfalten würden,
wäre die Gesellschaft eine trostlose Runde,
denn die große Ungewissenheit, die die Menschheit belebt, ginge zu Grunde.
Also lassen wir diese Fragen lieber ungeschliffen, roh, beantworten nicht gleich alles,
und ganz am Ende bleibt dann nur noch: Warum ist das alles so?

Der Mann der Sprache

„Und dann schau ich den halt so an und denke: boah, geil, der geht ab!“
„Ja, und er? jetzt sag an!“
„Naja man, der checkt mich so ab und ich würd ihm voll gern in sein face sagen:  alter, was geileres als mich kriegste nicht.“
Ich sitze in der Straßenbahn und lausche diesem höchst unterhaltsamen Gespräch. Das geht zwischen den beiden „geilen“ Mädels noch eine ganze Weile hin und her, aber den Rest will ich einfach jedem ersparen, denn eigentlich geht es die ganze Zeit so weiter.
Ich steige aus der Bahn und der eiskalte Wind nimmt mir kurz den Atem und im selben Moment schießt mir ein glasklarer Gedanke durch den Kopf: Was ist nur mit unserer Sprache passiert?
Mit Wörtern wie fabelhaft, frohen Mutes, flatterhaft und um jemanden freien? Gülden, anmutig und prächtig? Schlingel, Schmierfink und Nackedei? Warum wird für alles schöne immer „geil“ und „cool“ benutzt, wann wurden diese Wörter auf den Thron des Wortschatzes gesetzt? Wann übernahmen „scheiße“ und „krass“ die Macht, warum zogen „alter“ und „man ey“ in den Kampf gegen die lyrischen Schelme, Trunkenbolde, Lausbuben und Knilche?
Wenn man „alte Wörter“ googelt, kommen ganze Seiten, quasi Friedhöfe der, unter einer Decke von  „Fuck“ „Bock“ und „Bullshit“ begrabenen armen Seelen, die irgendjemand Anfang des 21. Jahrhunderts von den Zungen der Gesellschaft verbannt hat.

Ich stapfe durch den Schnee, bedacht, nicht auf dem glatten Boden auszurutschen und fange an, über sterbende Wörter oder Redewendungen nachzudenken. Wie mich selbst mein Deutschlehrer angucken würde, wenn ich ihm in einer Diskussionsrunde auf die Frage: „Ronja, was sagen Sie denn dazu?“ ganz galant antworten würde: „Herr Stuch, was lange währt, wird endlich gut.“
Oder bei einer Prügelei dazwischen gehen würde und einfach mal sage: „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern  zu.“ Oh ja, die Blicke würde ich gerne mal sehen.
Meiner besten Freundin könnte ich bei Liebeskummer mit Sätzen wie: „zu jedem Topf passt ein Deckel“ oder: „noch ist nicht aller Tage Abend!“ bestimmt die Tränen aus den Augen und ein Lächeln auf die Lippen zaubern. Aber eigentlich ist es doch mehr zum Weinen, dass keiner mehr die Wahrheit dieser Sätze sieht.
Und es ist auch zum Weinen, dass das Word Programm meines Computers „Gülden“ rot unterstreicht, also als Fehler ansieht, aber „Fotze“ nicht.

Ich ging also weiter durch die weißen Straßen, wich den Menschen aus, die versuchten sich einen Weg durch die Menge zu bahnen und schnappte hier und da Gesprächsfetzen auf. War völlig in Gedanken vertieft. Ging um eine Ecke.
„Hoppsala! Obacht, junge Dame!“
„Sorry!“ stammelte ich. Meine guten Vorsätze an die deutsche Sprache waren mit meiner Tasche auf dem Boden gelandet, wo sich deren Inhalt nun ausbreitete. Der Mann bückte sich, sammelte Lippenstifte und Notizzettel ein und murmelte etwas von „Was ein Firlefanz! Ich bin aber auch ein Tolpatsch!“. „Entschuldigen Sie, was sagten Sie da grade?“, fragte ich ihn, gebannt von diesem antiken Ausdruck. „Nun ja, heutzutage will doch ein jeder das Eisen schmieden solange es heiß ist, nicht wahr?“ Ich konnte nur benommen nicken.

Er fuhr unbeirrt fort: „Ach, schauen Sie nur, Fräulein, wie die alle gaffen und Maulaffen feilhalten!“ Es waren einige Passanten stehen geblieben und beobachteten, wie wir auf dem Boden nach Radiergummis und Geldstücken suchten. „Schließlich mahlen Gottes Mühlen langsam und man muss nun wirklich nicht wie die Made im Speck leben! Hoffentlich stibitzt hier keiner etwas!“
Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke.
Er plapperte munter weiter vor sich hin. „Und es ist eine Selbstverständlichkeit, von dannen zu gehen, ohne in der Not beizustehen, diese Flegel, aber wer zuletzt lacht, lacht am Besten, das sollten die sich alle hinter die Ohren schreiben.“
Er stand auf und überreichte mir meinen Kalender. „Nun aber alle höchste Eisenbahn! Es hat mich zu tiefst gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mich dünkt, Sie sind so schweigsam, aber stille Wasser sind bekanntlich tief!“ Und mit einem Lächeln verschwand er wie eine Wortschatz- Fata Morgana  in der Menge.
Ich stand da. Mein Kopf dröhnte und quoll über mit Redewendungen einer vergangenen Zeit. Ich hatte Vokabeln und Begriffe auf den Lippen, die in keinem Duden mehr stehen, weil jeder einzelne Buchstabe von ihnen vergilbt ist.
Und alles, was ich vor lauter Wörtern leise murmeln konnte war: „krass, ey!“


Zurück zur Artikelübersicht